Als Hanwag 1921 gegründet wurde, war die Welt eine andere. Auf dem Planeten lebten zwei Milliarden Menschen ganz ohne Internet und Big Mac, das Auto hatte eine gar sonderliche Form und auf den Achttausendern war noch kein Mensch gestanden. Aber schon damals brauchten die Menschen eines: gute Schuhe. Und so sehr sich diese in den vergangenen hundert Jahren auch verändert haben mögen, ist für Hanwag und seine Mitarbeiter eines bis heute doch gleich geblieben: Der Anspruch, die besten Schuhe zu produzieren.
Im Haus Nr. 56 der damals 1100 Einwohner zählenden Gemeinde Vierkirchen eröffnet der Schuhmachersohn Hans Wagner seine eigene Schuhmacherei. Weil Wagner die damals übliche Störarbeit in fremden Stuben wenig behagt, fertigt er bald für die Schuhfabrik Reiter in München unter anderem leichte Bergschuhe in Heimarbeit an und beginnt einen Handel mit Berufsschuhen. Noch ohne Wagners Schuhe startet eine erste britische Erkundungsexpedition derweil zu Vermessungszwecken ins Everest-Gebiet und Polarforscher Ernest Shackleton seine letzte Antarktis-Expedition. Albert Einstein erhält den Nobelpreis in Physik.
Die zwiegenähten Schuhe sind derart gefragt, dass Wagner vier Gesellen beschäftigt. Er baut das Haus Nr. 57 in Vierkirchen und erweitert es drei Jahre später um eine größere Werkstatt. Sporthäuser werden noch nicht beliefert, doch gibt es bereits Großaufträge mit fünf oder zehn Paar Schuhe für einen Kunden. Was sonst noch in der Welt läuft: MAN entwickelt das erste Straßenfahrzeug mit Dieselmotor, Adolf Hitler scheitert mit einem Putschversuch, Mustafa Kemal gründet die Republik Türkei. Loriot, Horst Tappert und Richard Attenborough werden geboren.
Hans Wagners Neffe, der spätere Geschäftsführer Sepp Wagner, erlernt von 1936 bis 1939 das Schuhmacher-Handwerk in der Fabrik des Onkels. Dort werden bereits Skischuhe – aus Leder, mit Schnürung, vorne eckig – für den immer populäreren Skisport gefertigt. Bei den Olympischen Winterspielen in Garmisch-Partenkirchen werden erstmals alpine Skirennen ausgetragen. Adolf Hitler nutzt das Sportereignis ebenso zu seiner Inszenierung, wie die Olympischen Sommerspiele sechs Monate später in Berlin. Toni Kurz und Andreas Hinterstoißer sterben beim Durchsteigungsversuch der Eiger-Nordwand.
Das Zwienähen wird von Hand- auf Maschinenarbeit umgestellt. Die Produktion läuft auf Hochtouren, obwohl bald etliche Schuhmacher in den Krieg ziehen müssen. Schuhe werden auf der ganzen Welt jetzt eher zum Marschieren als zum Wandern verwendet.
Nachdem die geplünderte Schuhfabrik in den Nachkriegswirren kurzzeitig verwaist, steigt mit dem wirtschaftlichen Aufschwung langsam die Nachfrage nach hochwertigen Ski- und Bergschuhen – und auch der Wert des Marketings. Hans Wagner nennt seinen Betrieb daher erst „Hawa“, 1952 aus markenrechtlichen Gründen schließlich Hanwag.
Hanwag präsentiert sich in Wiesbaden erstmals auf einer Sportartikelmesse. Josef „Sepp“ Wagner lernt dort den in die USA migrierten Sportartikel-Hersteller und Skilehrer Klaus Obermeyer kennen – und findet einen guten langjährigen Handelspartner für seine Skischuhe. Generell bleibt wieder mehr Zeit für Premieren und enge Bindungen: Der Lhotse (8516 m) wird erstbestiegen, Borussia Dortmund erstmals Deutscher Fußballmeister, die deutsche Lotterie führt die Zusatzzahl ein. Marilyn Monroe heiratet Arthur Miller, Grace Kelly Fürst Rainier III. von Monaco.
Josef Wagner übernimmt die Firmenleitung und liefert mit seinem Familienbetrieb etwa 10.000, weiterhin handgefertigte Skischuhe mit dem Modellnamen „Garmisch“ in die USA. Und was liefert die USA? Mary Poppins ist abgedreht, Michelle Obama wird geboren und Cassius Clay alias Mohammad Ali erstmals Box-Weltmeister.
Hanwag produziert den ersten tourentauglichen Skischuh – mit Innenschuh und Schnallenverschlüssen. Der sogenannte „Haute Route“ bleibt fast zehn Jahre lang das Maß der Dinge am Markt für Skitourenschuhe. Manches hat sogar noch länger Bestand: Im Bayerischen Wald wird der erste Nationalpark Deutschlands gegründet, Tonga erlangt die Unabhängigkeit von Großbritannien, die Tagesschau bekommt Farbe.
Mit Hilfe des Sportkletterpioniers Sepp Gschwendtner bringt Hanwag leichte Sportkletterschuhe auf den Markt. Das Produkt kommt zur rechten Zeit: Ein Jahr später werden in Deutschland die ersten Routen im neunten Grad geklettert, unter anderem von Gschwendtner, 1986 folgt mit Sportklettern heute der Klassiker unter den Sportkletter-Lehrbüchern. Jenseits der Felsen herrscht weniger Anarchie: Rüstungsweltmeister Ronald Reagan gewinnt die Präsidentschaftswahlen in den USA. „Star Wars – Das Imperium schlägt zurück“ kommt in die Kinos.
Hanwag entwickelt den ersten Spezialschuh fürs Paragliden, wieder auf Anregung des mittlerweile zum Gleitschirmfliegen gewechselten Sepp Geschwendtner. Der FLY 2000 überzeugt wegen des geringen Gewichts und großer Seitenstabilität. Was sonst noch abhebt und fliegt? Die Sowjetunion steht eher auf wackligen Füßen, Schwergewichts-Boxer Mike Tyson schickt die Gegner als Weltmeister aller drei großen Verbände reihenweise auf die Bretter, Michael Jacksons Album „Bad“ geht durch die Decke. Vogel des Jahres ist das Braunkehlchen.
Der noch heute im Handel erhältliche Bergschuh Alaska GTX markiert den Beginn der Partnerschaft mit Gore. Zum Klassiker avancieren außerdem der Film „Der englische Patient“, Oliver Bierhoffs Golden Goal, das Deutschland den dritten EM-Titel im Fußball beschert und ein mit 408 km/h gemessener Tornado auf Barrow Island. Das kommerzielle Bergsteigen am Mount Everest gerät wegen eines Unglücks mit acht Toten in Verruf.
Nach dem frühen Tod seiner zuvor bereits als Geschäftsführerin agierenden Tochter verkauft Sepp Wagner den Familienbetrieb an das schwedische Unternehmen Fenix Outdoor AB. Überhaupt bricht eine neue Zeitrechnung an. Auf dem Mars landen mehrere Raumsonden, in Deutschland wird mit gentechnisch verändertem Weizen experimentiert – und ein Student der Harvard University namens Mark Zuckerberg gründet Facebook.
Anlässlich des 90-jährigen Firmenbestehens stiftet Hanwag der Sektion München Oberland eine neue Biwakschachtel auf dem Zug- und Alpspitze verbindenden Jubiläumsgrat. Einen runden Geburtstag feiern außerdem Paris Hilton (30), die erste deutsche McDonald’s-Filiale (40) und Lothar Matthäus (50). Der Schweizer Alpinist Dani Arnold durchsteigt die Eiger-Nordwand, ganz ohne Biwak, in 2:28 Stunden.
Mit dem bislang einmaligen Bunion Leisten fertigt Hanwag erstmals Schuhe, die bei einem weit verbreiteten Schiefstand der Großzehen (Hallux Valgus) mehr Platz für das Großzehengrundgelenk bieten. Viel Raum wird zudem Nachrichten um den freiwilligen Rücktritt von Papst Benedikt XVI., Edward Snowdens Whistleblowing und der Eurokrise eingeräumt.
Im 100. Jahr des Firmenbestehens von Hanwag werden voraussichtlich 400.000 Paar Schuhe gefertigt, in Kroatien, Ungarn und auch weiterhin in der Firmenzentrale in Vierkirchen. Allerdings hat das neue Gebäude im Gewerbegebiet mit dem Haus Nr. 57 aus der Anfangszeit ungefähr so viel gemeinsam, wie die genagelten Bergstiefel aus den Zwanzigern mit dem neuen Ferrata Low GTX.